Erstgutachten zur Masterarbeit von Jan Simner, MA Soziologie
Titel der Arbeit: „Die soziologische Interpretation des Indikationskalküls von George
Spencer-Brown“
In seiner Masterarbeit befasst sich Jan Simner mit George Spencer-Browns „Laws of
Form“, einem formalen Werk, das in seinem Entstehungskontext situiert, in seinem Argumentationsaufbau rekonstruiert und in seiner Rezeption – sowohl in der allgemeinen Systemtheorie als auch in der soziologischen Systemtheorie Luhmanns – nachverfolgt wird.
Die soziologische Relevanz dieser umfassenden und für eine Masterarbeit außergewöhnlichen
Auseinandersetzung mit einem auf dem ersten Blick soziologiefernen Werk ist insbesondere
dadurch begründet, dass es in der späten soziologischen Systemtheorie Luhmanns
von Bedeutung ist und dadurch soziologisch rezipiert wurde; tatsächlich scheint
die systemtheoretische Rezeption überhaupt die einzige zu sein, die diesem Werk größere
Aufmerksamkeit schenkt. In seiner Arbeit kann Simner vor dem Hintergrund seiner eigenen
ausführlichen und sehr transparenten Rekonstruktion des Werks zeigen, dass in der
systemtheoretischen Rezeption grundlegende Fehlinterpretationen vorliegen. Er nimmt
diese zum Anlass einer grundsätzlichen Kritik der soziologischen Systemtheorie und
möchte am Ende alternative soziologische Verwendungsweisen der Theorie von Spencer-
Brown aufzeigen.
Die Arbeit umfasst 120 Seiten Text (darin enthalten sind auch zahlreiche Abbildungen vom
Vf.), womit die Erwartungen an eine Masterarbeit deutlich übertroffen werden. Die reichhaltige
interdisziplinäre Literatur wird im Literaturverzeichnis angeführt, die Belege sind
in formaler Hinsicht einwandfrei (bis auf einen Eingabefehler bei den Angaben zu Austin).
Sprachlich ist die sehr transparente Leserführung hervorzuheben und das Vermögen, den
sehr formalen Argumentationsstil Spencer-Browns in eigenen Worten und mit Beispielen
anschaulich zu erläutern; abgesehen von bisweilen vorkommenden Flüchtigkeitsfehlern
und manchen etwas zu saloppen Formulierungen ist die Arbeit sehr gut lesbar. Im Anhang
wird der „Index of Forms“ als Lesehilfe angefügt, ebenso eine ergänzende Abbildung, eine
formale Berechnung des Re-Entry sowie eine eigene Beweisführung des de-morganschen
Gesetzes. Die Arbeit ist neben der Einleitung und dem Fazit in sechs Kapitel unterteilt: Das
erste dient der Kontextualisierung des Werks, das zweite rekonstruiert den Argumentationsaufbau,
das dritte geht auf die systemtheoretische Rezeption ein, das sehr kurze vierte
An das
auf die mathematische und das fünfte ausführlicher auf die soziologische. Im sechsten
Kapitel gibt der Vf. seine eigenen Überlegungen zu einer soziologischen Anwendungsperspektive
des Werkes wieder.
Die Einleitung gibt einen guten Einblick in das Vorhaben, begründet die Relevanz des behandelten Werks und nimmt auch bereits die grundlegende Kritik an der systemtheoretischen
Rezeption vorweg. Es wird hier auch schon die wichtige Einordnung des Vf. ausgeführt,
dass die Grundlage der „Laws of Form“ eine sprachphilosophische sei (mit Bezügen
zu Wittgenstein) und dass ihr Kern in der Auseinandersetzung mit einer Befehlssprache
liege (S. 4), was in der bisherigen Rezeption weitgehend übersehen worden sei. In der
Einleitung äußert der Vf. auch bereits seine weitergehende Auffassung, dass das Formenkalkül
von Spencer-Brown für die soziologische Systemtheorie derart zentral sei, dass der
Aufweis einer missverstandenen Rezeption diese insgesamt infrage stelle.
Das erste Kapitel zur Kontextualisierung (S. 8ff.) gibt zunächst, ausgehend von biografischen
Hintergründen, Einblick in den Entstehungskontext. Sodann wird auf den theoretischen
Teil der „Laws of Form“ eingegangen und zentrale Begriffe und Erkenntnisinteresse
rekonstruiert. Der Vf. legt großen Wert darauf, Spencer-Brown das „Pathos der Mathematik“
zu nehmen, ohne die mathematischen Bezüge gering zu schätzen. Spencer-Browns
Interesse wird vielmehr im Spannungsfeld zwischen (philosophischer) Logik, Technik und
Mathematik eingeordnet. Dazu unternimmt er auch einen kurzen Exkurs über die „logischen
Grundlagen der Mathematik“, der kenntnisreich die für das spätere Argument wichtigen
Themen der Selbstreferenz und der imaginären Zahlen einführt. Daraus ergibt sich
in der Darstellung das Erkenntnisinteresse der „Laws of Form“, nämlich die Logik aus der
Mathematik heraus zu begründen (S. 14). Von zentraler Bedeutung ist hierbei das besondere
Verständnis von Mathematik, das in die Befehlssprache oder auch injunktive Verwendung
von Sprache mündet. Darin liegt der Kern der Interpretation des Vf., und er kann
die Konsequenzen dieser Sichtweise (Repräsentationslosigkeit, Wissenstheorie, De-Ontologisierung,
Nähe zu Wittgensteins Sprachspielen) überzeugend darlegen. Mit dem Konzept
der Form (S. 20f.) wird begonnen, tiefer in die Begriffswelt von Spencer-Brown einzusteigen;
hier geht der Vf. Schritt für Schritt vor und nimmt immer wieder Bezug auf anderslautende
Verständnisse in der Rezeption. So hebt er zum Beispiel hervor, dass die
Kategorie der Beobachtung bei Spencer-Brown „zweitrangig ist“ (S. 24). Die spezifische
Erkenntnismethode wird dabei wiederum am Charakter der Befehlssprache festgemacht,
d. h. der „imperativen Form“ (S. 25) der Kalküle; es geht Spencer-Brown demnach um die
Form als „Anfang“ von Wissensformen, während Luhmanns Zugriff das Vorliegen von
Kommunikationen voraussetzt (S. 25). Am Ende des Kapitels wird noch einmal eine sehr
strukturierte Zusammenfassung gegeben. Insgesamt gelingt es überzeugend, Kontext
und Erkenntnisinteresse der „Laws of Form“ unter Heranziehung breiter Kenntnisse und
in gut strukturierter Form herauszuarbeiten und – auch unter Verwendung von Beispielen
– in die ungewöhnliche Denkweise der formalisierten Befehlssprache einzuführen.
Das zweite Kapitel enthält eine Rekonstruktion des Hauptteils der „Laws of Form“, die auf
der Darlegung der zentralen Begriffe und des Erkenntnisinteresses im vorigen Kapitel aufbauen
kann. Der Vf. fokussiert auf die ersten und die beiden letzten Kapitel, und er bezieht sich primär auf die englische Originalausgabe, merkt aber immer wieder auch problematische
Übersetzungen in der deutschen Fassung an (z.B. S. 42, 44) und geht an Schlüsselstellen
auf die von ihm kritisierten Missverständnisse in der Rezeption ein (z. B. S. 43, 57).
Dies betrifft vor allem die Lektüre der „Laws of Form“ als Theorie der Beobachtung oder
Paradoxie. Nach einer Erläuterung des Aufbaus (S. 39ff.) erfolgt ein systematischer Durchgang
durch die Argumentation, der sehr großen Wert darauf legt, die Schlüsselbegriffe
präzise zu bestimmen und das Kalkül mithilfe von eigenen Darstellungen zu veranschaulichen.
Dadurch, dass immer wieder Bezug auf die o.g. Missverständnisse genommen
wird, ist die Darstellung nicht lediglich ein Referat, sondern eine am Aufbau der „Laws of
Form“ orientierte Beweisführung für die eigene Lektüre. Die (in den Ausführungen überzeugend
dargelegte) zentrale, von Luhmann abweichende Interpretation des Vf. betrifft
die Unterscheidung zwischen der „Form der ersten Unterscheidung“ und den „forms of
reference“, die bei Luhmann nicht getroffen wird (S. 64). Dies führt zu der vom Vf. kritisierten
Gleichsetzung des „unmarked state“ mit dem „blinden Fleck“ (S. 65). In vergleichbarer
Weise wird eine Alternative Lesart des Konzepts „re-entry“ (S. 66ff.) gegeben. Es gelingt
dem Vf. auch überzeugend, die im ersten Kapitel vorbereiteten Rückbezüge auf die
Algebra (imaginäre Zustände und Werte) sowie auf die Logik (Bezug von „wahr“ auf die
markierte Seite und „falsch“ auf die unmarkierte Seite der Form der ersten Unterscheidung,
S. 71). Das Kapitel beeindruckt durch seine konzentrierte, systematische und die
eigene Lesart argumentativ gut begründende Vorgehensweise. Der Vf. kann hier ein breites
Wissen gezielt einsetzen, und es gelingt ihm, Schritt für Schritt seine eigene Position
in Abgrenzung von der vorherrschenden Rezeption zu erläutern.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der systemtheoretischen Rezeption der „Laws of Form“,
wobei hier die soziologische Systemtheorie noch dezidiert ausgespart bleibt. Heinz von
Foersters Rezension von 1971 hat, so der Vf., die Aufmerksamkeit der interdisziplinären
Systemtheorie und Kybernetik überhaupt erst auf dieses Werk gerichtet. Sie zeuge zwar
von einem guten Verständnis, der Vf. hält jedoch fest, dass die „Laws of Form“ in Foersters
Arbeiten im Prinzip keine Rolle spielten. Die institutionellen und theoretischen Hintergründe
dieser Systemtheorie werden knapp und präzise eingeführt. Von größerer Bedeutung
– vor allem für Luhmann – ist die Biologietheorie von Maturana und Varela, insbesondere
das Konzept der Autopoiesis. Bei der Darstellung von Luhmanns Aneignung dieses
Konzepts sind jedoch Unschärfen festzustellen. So heißt es, „psychische Systeme oder
Personen gehen miteinander in Interaktion ein, stellen Erwartungen aneinander und reduzieren
gegenseitig ihre Komplexität, sodass aus dieser Wechselwirkung ein soziales
System entsteht“ (S. 83). Das ist als extreme Verknappung des Kapitels zur doppelten Kontingenz
in Luhmanns „sozialen Systemen“ von 1984 durchaus treffend, jedoch bleibt hier
die (später durchaus gesehene) wichtige Differenz zwischen Maturana/Varela und Luhmann
hinsichtlich des Mediums Sinn ungeklärt, es scheint als übernehme Luhmann sowohl
das Konzept des Organismus als auch des der Kommunikation sowie das der Autopoiesis
von der Biologietheorie, was zu stark vereinfacht ist. Es gelingt in diesem Kapitel
gleichwohl überzeugend zu zeigen, dass die Aneignung der „Laws of Form“ sowohl bei von
Foerster als auch bei Maturana und Varela entweder sporadisch oder idiosynkratisch war (das wird anhand Varelas gut gezeigt). Es ist daher nachvollziehbar, wenn der Vf. behauptet,
eine Rezeption von Spencer-Brown habe eigentlich noch gar nicht stattgefunden (S.
87). Die durchaus strittige These, dass Luhmann den Namen Spencer-Browns „ins Zentrum
seiner Theorie stellte“ (S. 87), wird am Ende des Kapitels noch einmal wiederholt.
Das vierte, nur zwei Seiten lange Kapitel geht auf die mathematische Rezeption der „Laws
of Form“ ein, der Vf. meint, dass auch hier ein weitgehendes Ausbleiben zu konstatieren
ist, wobei er sich einer eigenen Einschätzung enthält. Er hält jedoch fest, dass das soziologische
Interesse an Spencer-Brown aus seiner Sicht darin liegt, dass er „verständlich
macht, wie aus Konventionen zu Verwendung von Zeichen eine Mathematik entstehen
kann.“
Im fünften Kapitel zu soziologischen Rezeption entfaltet der Vf. seine Kritik an Luhmanns
Lektüre. Es werden zunächst einige andere Autoren zitiert, die diese ebenfalls kritisch sehen
und entweder als ein produktives Missverständnis (Hölscher) oder aber als einen für
das Verständnis der Systemtheorie zu ignorierenden Sachverhalt einordnen (Hennig). Der
Vf. selbst geht, wie schon ausgeführt, davon aus, dass Luhmann Spencer-Brown „in den
Kern seiner Theorie stellte“ (S. 89). Er behauptet, dass darin die „theoretische Rechtfertigung“
des Luhmannschen Systembegriffs liege, dass außerdem Luhmanns Sinnbegriff
von Spencer-Brown abhänge und schließlich, dass sogar außer „dem Begriff der Komplexität
und der Theorie funktionaler Differenzierung … in der Systemtheorie … nicht viel
übrig[bleibe], was nicht durch Spencer-Brown begründet wurde.“ (S. 90). Leider begründet
er diese sehr weitgehenden Aussagen nur durch kurze Verweise auf Luhmanns „soziale
Systeme“ (1984) sowie auf Baecker, dessen Lektüre Spencer-Browns in dieser Arbeit
durchweg kritisiert wird. Nach Auffassung des Gutachters müsste die These einer Zentralstellung
von Spencer-Brown in der Systemtheorie Luhmanns auf viel breiterer Textbasis
ausgeführt werden – was den Rahmen der vorliegenden Arbeit sicherlich gesprengt
hätte. Aus diesem Grund soll im Folgenden der Fokus auf denjenigen Argumenten liegen,
mit denen der Vf. Fehllektüren Luhmanns und anderer in Bezug auf die soziologische Systemtheorie
aufdeckt. Auf die Frage, inwieweit diese Fehllektüren zur Implosion der Systemtheorie
insgesamt führen können, soll an späterer Stelle eingegangen werden. Zunächst
wird auf die von Luhmann selbst reflektierte Schwierigkeit einer definitorischen
Setzung der Differenz von System und Umwelt eingegangen (S. 91). In der kurzen Passage
wird aber nicht deutlich, was Luhmann in „soziale Systeme“ dazu bewegt, eben keine konventionelle
Definition vorzulegen; stattdessen wird dies am Maßstab des Spencer-
Brown’schen Vorgehens gemessen und kritisiert, dass Luhmann (wie der Vf. nachvollziehbar
gezeigt hat) von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht. Weshalb dieser Maßstab
aber an Luhmanns Systemtheorie anzulegen sei (auch oder sogar gerade wenn dieser S.-
B. nicht verstanden hat), wird jedoch nicht begründet. Ein weiterer kürzerer Abschnitt
möchte nachweisen, dass Luhmanns Verständnis des Konstruktivismus inkonsistent sei
(S. 92f.). Er sieht dies darin begründet, dass die Unterscheidung zwischen System und
Umwelt ontologisch sei und mit der konstruktivistischen Anlage der Systemtheorie nicht
vereinbar. Dass diese Frage in der Rezeption der Systemtheorie bereits durchaus kritisch
und facettenreich diskutiert wurde, kommt er nicht zu Sprache (vgl. z.B. Stäheli „Sinnzusammenbrüche“).
Auch dies hätte sicher den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt.
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In einem weiteren Abschnitt wird auf das bei Luhmann wichtige Konzept der Paradoxie
eingegangen. Wiederum kann der Vf. zeigen, dass Luhmanns Verständnis von Spencer-
Brown von dem seinigen deutlich abweicht. Auch wenn man den Aufweis von Missverständnissen
konzedieren kann (die subtile Rekonstruktion im zweiten Kapitel macht dies
plausibel), wird auch hier nicht auf die vielen anderen Quellen eingegangen, denen Luhmann
wichtige Anregungen verdankt (in Bezug auf die Paradoxien ist hier sicherlich der
Dekonstruktivismus zu nennen, in Bezug auf den Sinnbegriff ohne Frage Husserl). Dies
zeigt sich auch in dem Abschnitt zur Form der Systemtheorie, in dem zwar erkannt wird,
dass Luhmanns Aneignung der Systemtheorie von Maturana und Varela erst durch die
Ergänzung der Sinnkategorie zu einer Soziologie wird – in dem aber nicht darauf eingegangen
wird, dass es eine sehr breite Strömung klassischer und neuerer Soziologien gibt,
die auf dem Verstehen basieren, und der Sinnbegriff also viel eher an der Soziologie selbst
denn an Spencer-Brown hängt. Weiterhin wird auf Dirk Baeckers Publikationen zur Fokussierung
der Systemtheorie auf Spencer-Brown eingegangen, und zwar dies sehr kritisch.
Ihm wird vorgeworfen, die Missverständnisse Luhmanns fortzuführen und von S.-B. nur
die Notation unter Auslassung der Möglichkeit der Berechnung zu übernehmen, womit
die Referenz auf die „Laws of Form“ sinnlos werde (S. 100).
Das sechste Kapitel enthält einige interessante Überlegungen zu alternativen Anwendungen
des Indikationskalküls in der Soziologie. Der Vf. merkt ausdrücklich an, dass es sich
um erste, exemplarische und durchaus tentative Überlegungen handelt, die nicht den Anspruch
eigener Fallstudien anmelden. Gedacht wird hier an die Verwendung zu einer „Art
der Inhaltsanalyse“, die sich an Foucaults Diskursanalyse anlehnt. Das Kalkül sei dazu geeignet,
Regeln für die Übersetzung einer Sprache in eine andere zu erstellen. Dazu bedürfe
es aber eine „Zwischentheorie“, die den Formalismus des Indikationskalküls soziologisch
zu fokussieren erlaube, indem „empirische Ereignisse als sprachliche Ereignisse“ gefasst und in die „Sprache des Indikationskalküls übersetzt“ werden (S. 103). Der Vf. hat die Idee, die zentrale Form der ersten Unterscheidung des Indikationskalküls inhaltlich zu spezifizieren als die Unterscheidung von Notwendigkeit und Kontingenz. Das wird ausdrücklich
als eine Idee präsentiert, die nur geprüft werden solle – nicht tatsächlich hergeleitet.
Vielmehr wird diesem Gedanken zunächst in qualitativer und sodann in quantitativer
Hinsicht exemplarisch nachgegangen. Bezüglich der qualitativen Anwendung hält sich
der Vf. an die Wissenssoziologie und führt aus, dass aus der vorgeschlagenen Perspektive
„ein Wissensbestand als ein Arrangement von Erklärungszusammenhängen“ analysiert
werden könnte. Das ist gerade mit der Bezugnahme auf Foucaults Diskursbegriff sehr interessant, wenn auch nur kurz angedeutet. Dem Vf. ist zuzustimmen, dass bei einer solchen
wissenssoziologischen Anwendung des Indikationskalküls keine systemtheoretischen
Vorannahmen nötig sind – aber das verwundert kaum, denn hier handelt es sich ja um kein theoretisches, sondern um ein empirisches Vorhaben. In einem weiteren Schritt
unternimmt der Vf. einen Versuch der Formalisierung, die sich der Spencer-Brown‘schen
Notation bedient. Er versucht dann, die Systemtheorie als einen empirischen Wissensbestand
formal zu beschreiben, dabei unterscheidet er im Rückgriff auf Karl Mannheim zwischen
der Seinsgebundenheit des Denkens und der soziologischen Kritik (S. 111). Dem Gutachter ist nicht vollkommen klar geworden, wie das Verhältnis zwischen der Formalisierung
systemtheoretischer Aussagen als einem empirisch vorliegenden Diskurs und der
in den vorderen Kapiteln der Arbeit unternommenen inhaltlichen Kritik beschaffen ist. Am
Ende dieses Abschnitts wird jedoch deutlich, dass das Kalkül in der Lage ist, Erklärungszusammenhänge formal zu rekonstruieren. In einigen kurzen Ausführungen zur quantitativen Verwendbarkeit wird auf das Thema der Selbstreferenz eingegangen. Dies ist leider
nur sehr kurz angedeutet, insbesondere die Überlegungen zu einer Art sequenziellen Analyse
digitaler Diskurse scheinen interessant.
Im Fazit gibt der Vf. eine recht ausführliche und sehr systematische Darstellung des Argumentationsverlaufs, die hier nicht eigens rekapituliert werden soll.
Die Masterarbeit von Jan Simner nimmt sich eines nur auf den ersten Blick randständigen
Themas an und ist in der Intensität der Durchdringung des betrachteten Werks und in der
Breite der zu seiner Einordnung herangezogenen Kenntnisse als außergewöhnlich einzuschätzen.
Simner hat sich sehr intensiv mit den „Laws of Form“ auseinandergesetzt, versteht seine eigene fundierte Lesart sehr klar darzulegen und kann auch überzeugend Missverständnisse in der systemtheoretischen Rezeption offenlegen. In dieser Hinsicht ist das Vorhaben eigentlich eines, das in einer Dissertation ausgearbeitet zu werden verdient hätte. Simner gelingt es, diesen Kern des Vorhabens in einer dem Rahmen einer Masterarbeit angemessenen Weise umzusetzen, was eine herausragende Leistung ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die Behauptung, mit der nachgewiesenen Fehllektüre sei Luhmanns Systemtheorie insgesamt infrage zu stellen, eher apodiktisch vorgebracht als fundiert begründet ist. Denn dazu hätte der Referenzrahmen der „Laws of Form“ verlassen werden müssen, um eine Gesamteinschätzung der Systemtheorie vorzunehmen. Dies hätte sicherlich den Rahmen der Masterarbeit vollends gesprengt, nicht zuletzt, da hier auf die mehrere Jahrzehnte andauernde auch kritische Debatte um die Systemtheorie, ihre Grundlegung, ihre Widersprüche und nicht zuletzt auch ihre beständigen Modifikationen hätte eingegangen werden müssen. Gerade die soziologischen Hintergründe von Luhmanns Systemtheorie werden in der vorliegenden Argumentation nur kursorisch berücksichtigt, so etwa sein Versuch, Parsons Theorie konstruktivistisch zu wenden und damit dem Normativitäts- und dem Stabilitätsprämissenproblem zu entgehen. Hier überschätzt Simner die Bedeutung von Spencer-Brown für die Systemtheorie (besonders deutlich am Sinnbegriff, für den auf Husserl und die klassische soziologische Tradition hätte Bezug
genommen werden müssen). So nachvollziehbar es ist, dass der Vf. auf der Basis des von
ihm akribisch rezipierten Werkes argumentiert, in dieser Hinsicht tendiert er zu kurzschlüssigen
Aussagen. Die im letzten Kapitel exemplarisch ausgeführten Überlegungen zu möglichen Verwendungsweisen de „Laws of Form“ zeigen jedoch, dass er weitergehende Ideen hat, die aus der Immanenz der Rekonstruktion heraustreten. Diese sind empirisch ausgerichtet, was begrüßenswert ist, aber werden eben doch auch nur als Ausblicke formuliert. Insgesamt soll die oben ausgeführte Kritik jedoch angesichts der sehr überzeugenden Leistungen bei der Rekonstruktion und Darstellung der „Laws of Form“ und beim Versuch, sie soziologisch fruchtbar zu machen, nicht zu hoch gewichtet werden.
Vor diesem Hintergrund bewerte ich die Arbeit mit der Note 1,3 (noch sehr gut