Feedback 2 Jan Simner

Zuweilen ist es unklar, ob eine studentische Abschlussarbeit eigentlich als Kommunikation
innerhalb des Wissenschafts- oder des Erziehungssystems fungiert. Bei der Master-Arbeit von
Jan Simner erübrigt sich diese Unklarheit: In Anspruch und Durchführung versteht sie sich klar
als soziologiegeschichtlicher und zugleich theoriesystematischer Beitrag zu einer
hochkomplexen Frage, deren Beantwortung die souveräne Handhabung mehrerer
Disziplinbezüge voraussetzt: Um die soziologische Interpretation eines außerhalb der Soziologie
entstandenen Denkzusammenhangs – das Indikationskalkül Spencer Browns – zu diskutieren
und zu problematisieren, sind schließlich u.a. sprachphilosophische, linguistische,
mathematische und erkenntnistheoretische (Vor-)Kenntnisse nötig, die in den seltensten Fällen
vorhanden sind.
Dieses Zweitgutachten soll den Argumentationsgang der Arbeit nicht linear und en détail
nachvollziehen – dies leistet bereits das Erstgutachten –, sondern in komprimierter Form Stärken
und Schwächen dieses überaus ehrgeizigen und anspruchsvollen Vorhabens Jan Simners
benennen. So lesens- wie lobenswert ist der zweifache, einmal eher philosophisch-theoretisch
und einmal eher formallogisch perspektivierte Durchgang durch das Spencer Brown’sche
Hauptwerk Laws of Form, der besonders durch seine eigenständige und mit wenigen Ausnahmen auch sprachlich ansprechende Rekonstruktion besticht und bereits Seitenblicke auf die soziologische Interpretation Spencer-Browns enthält. Einen ersten Akzent legt Simner darauf,
dass es sich bei Laws of Form nicht um eine bloße Erkenntnistheorie handelt, sondern zu
entscheidenden Teilen auch um eine Sprachphilosophie, die in vielem dem Sprachspieldenken
Ludwig Wittgensteins ähnelt und von einem auf Deskription und Repräsentation abhebenden
Sprachverständnis dadurch Abstand nimmt, dass sie das von der Sprache Bezeichnete bzw.
Unterschiedene grundsätzlich von dem Befolgen eines spezifischen Befehls abhängig macht.
Von dieser Grundannahme aus gelingt es Simner dann vorzüglich, dem Leser die verschiedenen
disziplinären „Stationen“ der Laws of Form nahezubringen: Während die grundlegende Trennung
der Bezeichnung vom Bezeichneten in den Bereich der Semiotik fällt und die Befehle des „calling“
und des „crossing“ sprachphilosophisch hergeleitet werden, ist (erst!) der Indikationskalkül als
mathematische Operation zu verstehen, da dort v.a. (Rechen-)Regeln des Kontrahierens
verschiedener Befehle vorgestellt bzw. durchgeführt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint
die Logik dann lediglich als ein besonderer Fall der Laws of Form, der durch eine entsprechende
Kodierung der „ersten“ Unterscheidung zustande kommt. Als erkenntnistheoretische
Konsequenz hieraus zeichnet sich ab, dass ein konkreter Wissensbestand nicht objektiv
verifiziert oder falsifiziert werden, sondern nur im Hinblick auf den ihm zugrundeliegenden
Ausgangsbefehl rekonstruiert werden kann – mit der für konstruktivistische oder historischepistemologische Vorhaben durchaus attraktiven Folge, dass man die entsprechenden „Befehle“ und ihre Anschlussoperationen auch wieder „verlernen“, in soziologischer Terminologie: entselbstverständlichen kann.
Von besonderer Relevanz für das eigentliche Thema der Arbeit sind dann aber die Ausführungen,
die sich auf die insbesondere in der Systemtheorie Niklas Luhmanns rezipierten Denkfiguren
Spencer Browns fokussieren. Hier deutet Simner bereits in den rekonstruktiven Durchgängen an,
dass der Gebrauch, den v.a. Luhmann und Dirk Baecker von Spencer Brown machen, einige
Ungereimtheiten aufweist. So hinterfragt der Vf. etwa skrupulös die bei Luhmann sich
wechselseitig implizierenden Konzepte der „Selbstreferenz“ und der „Paradoxie“. Lege man
Spencer Brown zugrunde, seien selbstreferentielle Ausdrücke erstens keinesfalls unentscheidbar, sondern – analog zur Zahlentheorie – lediglich „imaginär“; und zweitens gebe
es auch selbstreferentielle Ausdrücke, die nicht zugleich paradox sind, wenn man sie im Sinne
der Brown Spencer’schen Befehlssprache analysiert. Ähnlich verfährt Simner mit Blick auf die
Anleihen, die die Unterscheidungs- und Beobachtungstheorie Luhmanns bei Spencer-Brown
macht. So macht Simner gegen Luhmann geltend, dass „Form“ und „Unterscheidung“ bei
Spencer Brown keineswegs Synonyme sind; dass die Luhmann’sche Identifikation von
„Unterscheidung“ und „Beobachtung“ sich gerade nicht auf die Laws of Form berufen kann, da
dort die Kategorie der Beobachtung eine nachrangige Rolle spielt; und dass der berühmtberüchtigte reentry, legt man Spencer Brown zugrunde, keinesfalls mit der systemischen Fähigkeit zur Selbstbeobachtung verwechselt werden darf, die laut Luhmann darauf gründe, dass eine Unterscheidung wieder in sich selbst einträte. Nüchtern gibt Simner dagegen zu bedenken, dass der reentry sich ursprünglich überhaupt nicht auf Unterscheidungen und/oder Beobachtungen beziehe, sondern sich schlicht dann ereigne, wenn „eine Kette von Befehlen in sich selbst als Teilbefehl wieder vorkommt“ (S. 117) – die Paradoxie sei dabei nur eine
Möglichkeit eines derartigen reentrys.
Diese Problematisierungen der Art und Weise, wie insbesondere Luhmann sich Spencer Brown
anverwandelt, sind allesamt sorgfältig gearbeitet und weisen zudem eine für eine Masterarbeit
ungewöhnlich umfassende Kenntnis verschiedenster Diskurszusammenhänge auf. So diskutiert
der Vf. etwa auch die eher in biologischen oder kybernetischen Kontexten prominenten
Überlegungen von Maturana, Varela und von Förster zu den komplexen
Selbstreproduktionsmechanismen von Systemen und setzt sie einerseits ins Verhältnis zu
Spencer Brown und andererseits zur soziologischen Systemtheorie – einmündend in die
hochinteressante These, dass Spencer Brown für Luhmann genau an der Stelle interessant wird,
an der „Sinn“ ins Spiel kommt und nicht mehr wie selbstverständlich von dem
„Überlebenswillen“ eines biologischen Systems ausgegangen werden kann. Hier übernehme
dann Spencer-Brown für Luhmann eine letzte argumentative Funktion, die in dessen Werk
jedoch wiederum gar nicht anzutreffen sei: nämlich an die Stelle des Überleben-Wollens eine
über Sinn prozessierte stetige Selbsterneuerung von Unterscheidungen zu setzen!
An dieser Stelle nun lässt sich das Hauptproblem der vorliegenden Abhandlung abschließend
demonstrieren. Der Vf. folgert aus dem Umstand, dass Niklas Luhmann einen fragwürdigen
Gebrauch vom Werk Spencer Browns gemacht hat, in irritierend selbstgewisser Weise, dass
damit die Luhmann’sche Systemtheorie als solche hinfällig sei und sich durch Spencer Brown neu
orientieren könne bzw. müsse. Doch dafür, dass die Systemtheorie mit der Korrektheit der
Spencer Brown-Bezüge steht und fällt, legt der Vf. ebenso wenig hinreichende Begründungen
vor wie für die Annahme, dass mit Spencer Brown eine „bessere“ Soziologie möglich wäre. Für
einen Beleg dieser beiden Thesen wären viel umfangreichere eigenständige Analyseschritte
notwendig gewesen. Zweifelsohne würden diese Analyseschritte den Rahmen einer
Masterarbeit endgültig sprengen – aber dies ändert nichts daran, dass solcherart weitreichende
und überdies höchst apodiktisch vorgetragene Erklärungsansprüche, sind sie einmal in der Welt,
sich auch am Geleisteten messen lassen müssen.
Die diesbezüglichen Probleme seien hier nur auszugsweise angerissen: Um die erste These
plausibel zu machen, hätte die vermeintliche Zentralstellung Spencer Browns bei Luhmann viel
genauer geprüft werden müssen. Insgesamt scheint mir, dass der Vf. die Bedeutung Spencer
Browns für Luhmann massiv überschätzt bzw. überzeichnet: Von der Definition des Systems als
„Differenz zwischen System und Umwelt“ über die „Möglichkeitsüberschüsse“ sinnvermittelter
Kommunikation bis hin zu Mechanismen, die Luhmann (irgendwann!) mit Spencer Brown als
„Reentry“ bezeichnen wird – bei allem ist höchst zweifelhaft, ob Spencer Brown hier wirklich der
so zentrale wie missverstandene Bezugspunkt Luhmanns ist. So ist Luhmanns These, dass ein
System sich über die Differenz von System und Umwelt erklären lässt, nicht nur älter als dessen
Lektüre von Spencer-Brown, sondern sogar älter als die Law of Forms selbst und weist auf Talcott
Parsons zurück. Gleiches gilt für das Sinnkonzept: Bereits lange vor seiner Spencer Brown-
Rezeption entnahm Luhmann v.a. Edmund Husserl, dass sinnvermittelte Kommunikation stets
Möglichkeitsüberschüsse und darin Anschlusschancen produziert. Und selbst das Interesse an
und die Analyse von Reentry-Phänomenen dürften bei Luhmann deutlich älter sein, als der Vf.
es suggeriert: 1966 hießen sie bei ihm noch „reflexive Mechanismen“. All diese Bezüge bleiben
in der Arbeit nahezu vollständig unterbelichtet, während der Vf. seine Grundannahme, dass
Spencer Brown für Luhmann so zentral gewesen sei, seltsamer Weise von einem Autor
übernimmt (S. 89), den er an anderer Stelle fast noch stärker als Luhmann für seine fehlerhaften
Spencer Brown-Bezüge (vgl. S. 98 ff.) rügt: Dirk Baecker.
Ähnlich dünn fallen die Belege für die Annahme aus, dass „der eigentliche“ Spencer Brown für
die heutige soziologische Forschung wichtige Neuorientierungen bereitstellen könnte. Die
Anregung, den Indikationskalkül als „eine Art der Inhaltsanalyse“ (S. 102) einzusetzen, bleibt
höchst ungefähr. Überzeugender fällt die Intuition aus, mit Spencer Brown die Bedingungen der
Möglichkeit von Übersetzungen erhellen zu können, denn Übersetzungen funktionieren nur
unter den Bedingungen einer Repräsentationslogik mit einer spezifischen Regelverwendung
(„tue so, als ob…“) – hier aber stellt sich die Frage, wie diese eher sprachphilosophische
Beobachtung ihrerseits überhaupt in soziologische Forschungsvorhaben „übersetzbar“ ist.
Ähnliches gilt für den Versuch des Vf., die erste Form der Unterscheidung alternativ mit
„Notwendigkeit“ vs. „Kontingenz“ zu kodieren (der Satz auf S. 104/105 ist zudem syntaktisch
unverständlich) – auf welches konkrete, genuin soziologische Bezugsproblem ist dieses Konzept
gerichtet, und was kann man mit ihm sehen, was man mit einer an Foucault angelehnten
Diskursanalyse nicht sehen kann? Und auch die angedeutete quantitative
Forschungsmöglichkeit, die Sicherheits- und Unsicherheitsperioden eines Diskurses anhand von
big data zu analysieren verspricht, müsste viel ausführlicher und methodenvergleichend
angelegt werden, um ihren etwaigen Wert für die Soziologie genauer abschätzen zu können.
Eine abschließende Gesamtwürdigung der Masterarbeit kann sich nur in eingeschränkter bzw.
modifizierter Weise jener Bewertungskriterien bedienen, die an konventionellere
Abschlussarbeiten anzulegen sind. Hierzu ist die Fragestellung der Arbeit zu anspruchsvoll, der
Argumentationsgang zu vielschichtig und verschachtelt und – nicht zuletzt – der Schreibduktus
zu ungewöhnlich. Der erste, werkrekonstruktive Teil der Arbeit ist in weiten Teilen hervorragend
gelungen und könnte in überarbeiteter Form ggf. auch in einen eigenständigen
Zeitschriftenaufsatz überführt werden – allerdings ohne explizit soziologische Stoßrichtung. Die
Ausführungen zur systemtheoretischen (Fehl)-Rezeption sind an sich ebenfalls sehr überzeugend
gearbeitet und bestechen zudem durch eine breite Kenntnis benachbarter
Diskussionszusammenhänge. Deutlich skeptischer beurteile ich die Passagen, in der der Vf. sich
ohne Not eine Beweislast auflädt, die er letztlich nicht einlösen kann, und zwar sowohl was die
Geschichte und den Gehalt der Luhmann’schen Systemtheorie als auch die vermeintliche
Relevanz eines von Spencer Brown inspirierten Neuansatzes in der Soziologie angeht. Dennoch
bewerte ich aufgrund des enormen Kenntnisreichtums, des luziden Argumentationsgangs
insbesondere der ersten Kapitel und der denkerischen Intensität, mit der sich der Vf. auf gleich
mehrere hochkomplexe Autoren bzw. Theorien eingelassen hat, die Arbeit mit
1,3 (noch sehr gut)